Asyl und Coronavirus – die Aktualität im Lichte ethischer Reflexion

In den letzten Wochen hat sich die Aktualität um die Pandemie herum in der Schweiz und in Europa beschleunigt. Es ist hilfreich, Abstand zu nehmen, um darüber nachzudenken, wie sich in dieser Zeit die sanitäre Notsituation auf den Asylbereich auswirkt.

Ein kleines theoretisches Modell

In seiner grossen Theorie der Gerechtigkeit [1.  Auf Englisch 1971 erschienen, und in deutscher Übersetzung 1975, beim Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. (Reihe «suhrkamp taschenbuch wissenschaft», Nr, 271 – 674 S.!). ] unterscheidet der angelsächsische Philosoph John Rawls zwei Grundperspektiven, die einander überkreuzen und miteinander in Konflikt geraten können. Wir haben Absichten, Wünsche in Hinsicht auf Gerechtigkeit, wir bemühen uns, gewisse Ziele zu erreichen: Das ist der teleologische Aspekt (vom griechischen telos, das Ziel, die Finalität). Unter diesem Gesichtspunkt steht Rawls im Streit mit dem im angelsächsischen Bereich weit verbreiteten Utilitarismus, der sagen kann, dass das Opfer einiger legitim ist, wenn es zum grösstmöglichen Wohl der grösstmöglichen Menge beiträgt. Ganz im Sinne der traditionellen Formel gilt hier, dass der Zweck die Mittel rechtfertigt. In Rawls’ Urteil widerspricht diese Position der Perspektive, die er deontologisch nennt (vom griechischen deon, was sein muss, das Verpflichtende): Im Namen der Menschenrechte und -pflichten ist es illegitim, irgendwen zu  opfern, denn jeder Mensch muss ausnahmslos geschützt werden. Deshalb müssen für Rawls alle unsere Teleologien stets der Deontologie unterworfen werden. Um es kurz zu fassen: Daraus folgert er zwei Gerechtigkeitsprinzipien: Das erste verlangt, dass alle rechtlich gleichgestellt sind und alle die gleichen Chancen bekommen; das zweite besagt, dass, wenn Ungleichheiten unvermeidbar sind, diese immer so eingerichtet werden müssen, dass sie die Situation der am stärksten Benachteiligten verbessern (er nennt das die maximin-Regel: «die Minima maximieren»). In seiner «kleinen Ethik», wie er sie nannte, hat der französische Philosoph Paul Ricœur im Rahmen seines Buches Das Selbst als ein Anderer [2. Auf Französisch 1990 unter dem Titel Soi-même comme un autre erschienen. In deutscher Übersetzung: Das Selbst als ein Anderer, München, Fink, 1996. ] diese Idee von Rawls aufgegriffen, indem er zwischen Ethik und Moral unterscheidet. Die Ethik ist dadurch bestimmt, dass wir uns auf gute Ziele ausrichten: wir wollen «ein gutes Leben mit dem anderen, für den anderen, in gerechten Institutionen». Die Moral hingegen auferlegt uns eine gewisse Anzahl von Normen und Verpflichtungen, denen wir uns beugen müssen. Das dritte Moment dieser «kleinen Ethik» nennt Ricœur die «praktische Weisheit»: Weil die Absichten und die Normen stets in Konflikt geraten, muss das konkrete Verantworten unseres Handelns erlernt werden, indem diese Konflikte mutig angegangen werden und nach praktischen Lösungen gesucht wird. Dieses kleine theoretische Modell erlaubt mir, gewisse Lebenserfahrungen, die wir in letzter Zeit gemacht haben, zu interpretieren, denn wir stehen im Kontext praktischer Weisheit, und in den Konflikten, die wir erleben, fällt die Deontologie sehr oft den unterschiedlichen Teleologien zum Opfer.

Die sanitären Notmassnahmen

Je nach Land unterschiedlich schnell und unterschiedlich geschickt haben die Regierungen gegen die Verbreitung des Coronavirus Notmassnahmen ergriffen. Gewiss bildet der sanitäre Schutz der Bevölkerung eine deontologische Forderung. Aber temporär bringt er die tiefere Deontologie in Gefahr. Er hebt gewisse Grundrechte auf, die uns normalerweise verfassungsrechtlich gewährt sind: das Recht, uns frei zu bewegen, uns zu versammeln, usw. Um die Einschränkungen der Notstandssituation akzeptabel zu machen, kann man massiv von einem zu führenden Krieg sprechen, wie das Präsident Macron in Frankreich tat. Aber das entbehrt uns nicht der Aufgabe, über die Deontologie zu wachen, denn auch hier könnte der Zweck allzu schnell die Mittel rechtfertigen (z.B. die elektronische Überwachung der Ansammlungen und der zwischenmenschlichen Beziehungen, um die Verbreitung des Virus nachzuverfolgen – «Big Brother is watching you» droht hier, mit Hilfe unserer Smartphones!). Wie die Einschränkungen des sanitäre Lockdowns wird auch deren progressive Lockerung Diskriminierungsgefahren enthalten, und deshalb gilt es auch da, wachsam zu bleiben! Im demokratischen System wäre diese Wächterfunktion Aufgabe der Legislative, und zum Glück haben die Parlamente ihre Arbeit wieder aufgenommen, nach einer deontologisch höchstproblematischen Pause. Noch katastrophaler ist es, wenn das Parlament der Exekutive uneingeschränkt Vollmacht gewährt, wie das in Ungarn der Fall ist! Die sanitäre Krise hat grössere Funktionsstörungen offenbart. Zwei seien hier kurz erwähnt, bevor wir nachher zu den Implikationen für die Asylfragen kommen. a) Rückblickend: In den vergangenen Jahren wurde das Gesundheitswesen riesigem ökonomischen Druck ausgesetzt. Es musste rentabel sein, und deshalb auf ein Minimum reduziert werden, damit es weniger kostet. Die Pandemie hat die Gefahr dieser ökonomistischen Teleologien gezeigt und die deontologische Notwendigkeit eines soliden und respektwürdigen Gesundheitssystems hervorgehoben (wenn man neoliberale Politiker um 21 Uhr für die heroische Haltung des Pflegepersonals klatschen sieht, überkommt einen die Lust, sie von ihrem Balkon hinunter zu stossen – Entschuldigung für diese Klammer: Sie ist nicht «deontologisch korrekt»!). b) In die Zukunft blickend: Gewiss hat die Wirtschaft gelitten, und es ist deshalb legitim, sich um die Zukunft derer zu sorgen, die arbeitslos geworden sind oder ihre Arbeit gar verloren haben, usw. Aber ich frage mich, ob die, welche lautschreiend Investitionen verlangen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, wirklich an die Benachteiligten denken und einem deontologischen «maximin» Sorge tragen. Ich befürchte, dass sie eher an ihren eigenen Profit denken, darauf aus sind, ihre finanzielle Gesundheit wieder aufzubessern, oder ihr allerheiligstes BIP zu steigern! Zurück zum Geschäft! Obschon die Krise eine gute Gelegenheit wäre, Bilanz zu ziehen, zu überlegen, was wir wollen und was wir sollen (krisis heisst auf Griechisch das Gericht). Aber schon wieder verdächtigt man die Mittellosen, profitieren zu wollen: « Die Nothilfe sollte kein Grund zum Faulenzen sein», sagte Bundesrat Guy Parmelin.

Im Asylbereich: kein «maximin»!

Kommen wir nun aber zu den Konsequenzen im Asylbereich. Auch hier findet das zweite Gerechtigkeitsprinzip von Rawls keine Anwendung. Die Pandemie hat gewiss eine grosse Solidaritätswelle gestiftet, aber in deren Vollzug zeigten sich auch grosse Differenzen. Es war keine grenzenlose Solidarität, im Sinne von Solidarité sans frontières… Es seien ein paar Beispiele erwähnt. a) Soeben sprach ich von denen, die ihre Arbeit verloren haben, und die Asylbewerber gehören dazu. Sie sind in Gefahr, die am stärksten Benachteiligten unter den am stärksten Benachteiligten zu sein, denn man wird sich nur zuallerletzt um sie kümmern, wenn sie niemand verteidigt. b) Wir haben beobachten können, wie der Schulunterricht zu Hause Asylbewerberfamilien in eine schwierige Lage gebracht hat: mangelnde Informatikausrüstung, lückenhafte Kenntnis der Unterrichtssprache, und deshalb grösste Mühe, die delegierten Unterrichtsaufgaben wahrzunehmen. Es besteht hier die Gefahr einer sozialen Fraktur. c) Die der Pandemie am stärksten Ausgesetzten sind die Zerbrechlichsten, und es war deshalb die Pflicht der Gesellschaft, dort die sanitären Notregeln an klarsten anzuwenden, wo sie am nötigsten waren, unter anderem in den Zentren für Asylbewerber. Aber wie sehr musste hier insistiert, und nochmals insistiert werden, und im Moment, wo ich diese Zeilen schreibe, gibt es Orte, wo sie immer noch nicht zur Anwendung gekommen sind. d) Schliesslich ist das Asylrecht selbst der Pandemie geopfert worden. Die Grenzen wurden als geschlossen erklärt, obschon die Grenzarbeiter sie jeden Tag überqueren konnten, und obschon Tausende von im Ausland blockierten BürgerInnen in die Schweiz zurückgeflogen wurden. Aber für die AsylbewerberInnen waren sie hermetisch geschlossen. Es gab keine Möglichkeit mehr, ein Asylgesuch einzureichen – was eine Verletzung des internationalen Rechts bedeutet, und damit ein deontologisches Grundproblem!

Die Seenotrettung: das Abdriften einer Deontologie

Ich erweitere etwas die Perspektiven. Das Seerecht ist absolut klar: Jede Person, die in Gefahr ist zu ertrinken, muss gerettet werden, wer immer sie ist. Wie ist es gekommen, dass im Laufe der Jahre diese Seedeontologie im Mittelmeer so unmöglich geworden ist? So dass man sogar um das Recht kämpfen muss, überhaupt eine Seenotrettung durchzuführen, dann in einem Hafen Einfahrterlaubnis zu bekommen, ohne sie erzwingen zu müssen, und schliesslich keine Beschlagnahmung des Rettungsschiffes zu erleiden? Obschon man zwischen 1993 und 2018 von ca. 36’000 Ertrunkenen weiss, deren Tod dokumentiert werden konnte.[3.  Vgl. das Dossier «Beim Namen nennen» in: Neue Wege, Nr. 2019/12. ] Zu diesem Thema empfehle ich wärmstens die Lektüre der Bücher, welche die zwei jungen deutschen Kapitäninnen Carola Rackete und Pia Klemp veröffentlicht haben, die auf dieser Front gekämpft haben und noch kämpfen.[4. Carola Rackete, Handeln statt Hoffen. Aufruf an die letzte Generation, München, Droemer, 2019: Pia Klemp, Lass uns mit den Toten tanzen. Roman, Augsburg, MaroVerlag, 2019.] Die Seedeontologie wurde durch Europa disqualifiziert: Die Retter wurden des Menschenhandels und der Zusammenarbeit mit den Schleppern angeklagt. Und das Rettungsproblem wurde mit ökonomischen Modellen angegangen: Wenn man eine Rettung anbietet, stiftet dieses Angebot einen Anreiz. Je mehr Rettungsschiffe da sind, je mehr Flüchtlingsboote werden kommen. Um «diesen Fluss zu regulieren » (ja, so spricht man in der EU…), muss der Anreiz reduziert werden. Und so gibt es nur noch eine Teleologie: die Überwachung der Aussengrenzen verstärken, und Frontex mit vielen Milliarden ausbauen. Und was die Flüchtenden auf ihren notdürftigen Booten betrifft, ist die beste Haltung: sterben lassen oder in die libyschen Lager zurückführen. Damit verrät Europa seine Grundprinzipien, die Deontologie, die ihre Basis konstituiert. Das Coronavirus hat dazu geführt, diese Schliessung der Festung Europa noch zu verschärfen. Eines nach dem anderen haben die europäischen Länder ihre Häfen als unsicher und deshalb als für jegliche Ankunft von Geretteten geschlossen erklärt (als ob sie vorher viel offener gewesen wären…); die Rettungsschiffe wurden zum Stillstand gezwungen; die Rettungsaktionen blokiert. Aber trotzdem wagen sich Flüchtlingsboote noch und noch aufs Meer, was übrigens auf tragische Weise die ökonomische Theorie von Angebot und Nachfrage widerlegt… Aber die Teleologie der Grenzschliessung hat die Deontologie des Seerechts ausgeschaltet.

Die Lager auf den griechischen Inseln: Utilitarismus pur…

Ca. 40’000 Männer, Frauen und Kinder leben zusammengepfercht in Lagern, die ursprünglich für ca. 6’000 Personen vorgesehen waren. Sie leben unter menschenunwürdigen Bedingungen : Krätze und andere Krankheiten breiten sich aus; Nahrung, die in langen Warteschlangen ausgeteilt wird, ist oft bereits verdorben; Hygiene ist rudimentär gewährleistet oder inexistent; Gewalt herrscht; Frauen werden vergewaltigt ; Kinder verstümmeln sich oder nehmen sich das Leben aus lauter Verzweiflung; und regelmässig zerstören Brände Teile der zusammengebastelten Hütten und Zelte, währenddem in der Umgebung rechtsextreme Gruppierungen Terror einflössen. Die Beschreibung, die Jean Ziegler in seinem Buch Die Schande Europas[5. Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten, Gütersloh, C. Bertelsmann, 2020.] vollzieht, ist schreckenerregend. Aber noch viel schrecklicher ist, wie er zeigt, dass dieses Elend eindeutig so gewollt ist: Europa lässt die in diesen Lagern lebenden Geflüchteten verelenden, um andere davor abzuschrecken, nach Europa zu kommen, indem gezeigt wird, wie wenig attraktiv und empfangsbereit Europa ist. In Rawls’ Sinne ist das purer Utilitarismus: 40’000 Menschen werden hier benutzt, missbraucht, um Europa vor einem unkontrollierbaren «Migrationsfluss» (immer dieser « Fluss » !) zu schützen. Nebenbei sei bemerkt, dass Frau von der Leyen ins europäische Migrationsdepartement auch die Aufgabe des « Schutzes europäischen Lebensstils» integriert hat. Als neuerdings eine Delegation aus Brüssel die griechisch-türkische Grenze besuchte, hat sie Griechenland zu seiner Funktion als «Schild Europas» gratuliert. Die Hilfe, die damals versprochen wurde, bestand gemäss Pressemitteilung in: «mehr technische Rüstung, vor allem Boote, ein Flugzeug für Seeüberwachung sowie mehrere Fahrzeuge (mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet), mit thermischem Licht.» Also eigentlich: noch mehr Frontex, noch mehr Militarisierung der Grenzen! Einmal mehr hat sich eine Teleologie über die moralische Pflicht hinweggesetzt: Europa muss sich an seinen Aussengrenzen vor einer Gefahr schützen, und in Osteuropa hört man sogar sagen, dass die Geflüchteten die ethnische Reinheit der Bevölkerung beschmutzen würden…
Eine mögliche Ausbreitung des Coronavirus in diesen Lagern der Schande wäre eine Katastrophe, denn sanitäre Schutzmassnahmen wären unmöglich durchzusetzen (lange Warteschlangen, ein Wasserhahn für 1’300 Personen, zahlreiche Familien in kleinen armseligen Zelten, usw.). Die Gefahr der sanitären Krise erlaubte der griechischen Regierung, die Lager komplett zu schliessen, so dass nicht einmal das Personal der Hilfswerke Zutritt bekommt. Diese Abkapselung schützt vielleicht vorläufig vor dem Virus, sie stiftet in den Lagern aber auch eine riesige Angst, die sich leicht in Ausschreitungen und Kämpfen mit der allgegenwärtigen Polizei entlädt.

Antwort auf die Osterappelle: «keine Krise»

Das in den griechischen Lagern herrschende Elend, das durch die Gefahr der Pandemie noch gesteigert wird, führte mehrere Bewegungen dazu, Osterappelle an den Bundesrat zu richten, mit der Bitte, ein klares Zeichen zu setzen, das Europa in Bewegung bringen könnte, indem er sofort mehrere Tausende von Geflüchteten in die Schweiz aufnimmt, weil es deontologisch nur noch darum gehen kann, diese Lager so schnell wie möglich zu evakuieren.[6.Der von über 110 Hilfswerken und NGOs unterstützte und von ca. 40’000 Personen unterzeichnete Appell EvakuierenJetzt ist auf vielen Homepages zu finden, u.a. Solidarité sans frontières, Amnesty International, usw. Vgl. auch den parallelen Osterappell der Migrationscharta (www.migrationscharta.ch). ]Die Antwort ist jedoch negativ. Wie es die Behörden schon vor mehreren Monaten angekündigt hatten, wird die Schweiz, nach einer komplexen Prozedur, Mitte Mai allein 21 oder 22 unbegleitete Minderjährige mit Familienbezug in der Schweiz empfangen, wie vor kurzem Luxemburg 12 und Deutschland 47 Minderjährige aufgenommen hatten. Wie es die Journalistin Mely Kiyak in der Zeitung Republik vom 20. April 2020 sagte, senden solche Aktionen nur eine besänftigende Botschaft an die eigene Bevölkerung: «Fürchtet euch nicht, wir schützen euch vor den Flüchtlingen.» Aber der Druck bleibt, denn die Osterappelle sind von einer starken Sympathiewelle getragen. Ich schlage den LeserInnen vor, weiter oben die kurze Beschreibung des Elends in den Lagern der griechischen Inseln nochmals zu lesen, um dann die Antwort des Staatssekretärs für Migration Mario Gattiker auf die Osterappelle in einem NZZ-Interview vom 21.04.2020 zur Kenntnis zu nehmen: «Die Situation in Griechenland ist schwierig, aber es gibt keine Krise.» Die griechische Regierung kann und muss ihre Arbeit machen : indem man die Asylprozeduren verbessert und beschleunigt, wird man das Problem der Lager lösen können. Was braucht es noch mehr in diesen Lagern, damit der unbewegliche Berner Beamte anerkennt, dass es da eine Krise gibt? Und vor allem: Wie geht er mit Jean Zieglers These um, dass diese Lager bleiben müssen, um weiterhin abzuschrecken, dass es zur europäischen Teleologie gehört, diese «hot spots» brennend, glühend bleiben zu lassen?

Der Rechtsstaat – unter Plexiglas…

Im Rahmen der sanitären Notmassnahmen wurden in der Schweiz alle Rechtsverfahren eingestellt, ausser im Asylbereich. Obschon die Bedingungen schwierig waren, wurden die Anhörungen von AsylbewerberInnen und die Asylentscheidungen im Staatssekretariat und im Bundesverwaltungsgericht weitergeführt. Es wurden Ausschaffungsentscheide gefällt (nach Griechenland, unter anderem!), obschon Ausschaffungen gar nicht vollzogen werden konnten. Nach vielen Protesten, die einen Abbruch dieser Verfahren verlangten, wurden sie für eine kurze Zeit unterbrochen, um die Anhörungsräume den sanitären Notregeln konform zu machen, unter anderem durch die Installation von Plexiglasscheiben. Das erlaubte dann am 1. April eine sofortige Wiederaufnahme der Verfahren (und das war kein Aprilscherz!). Um diese Fortführung der Prozeduren in verschiedenen Zeitungsinterviews zu rechtfertigen, haben sowohl Mario Gattiker als auch Frau Keller-Sutter den Rechtsstaat in Anspruch genommen.
Ja, Sie haben richtig gelesen: den Rechtsstaat! Welch ein Paradox! Für ihre administrative Obsession, möglichst viele Asylbewerbungen zu liquidieren, soll die Deontologie hinhalten. So etwa in Le Temps vom 1. April 2020: « Der Rechtsstaat muss weiterhin funktionieren. […] Gerade in einer Krisenzeit muss der Staat stark sein.» Auch wenn die Juristen und die Übersetzer auf Distanz sind – oder gar fehlen –, auch wenn die Rechtsberater im Homeoffice sind und sich bemühen, ihre Aufgabe so gut sie können zu erfüllen, auch wenn die Ärzte gegen das Virus kämpfen und keine Zeit für ärztliche Berichte haben, funktioniert der Rechtsstaat weiterhin – unter Plexiglas… Einzig eingeräumt wird eine gewisse Verlängerung der Rekursfristen… Es wird übrigens behauptet, man respektiere strengstens die sanitären Bemühungen der höheren Behörde. Die Widersprüche haben jedoch nicht gefehlt. Ein einziges Beispiel: Sangar Ahmad, ein kurdischer Asylbewerber, arbeitete seit mehreren Wochen mit seinem Reinigungsgeschäft tapfer an der Desinfizierung von waadtländischen Spitalräumlichkeiten. Am 13. April musste er jedoch diese sehr nützliche Arbeit abbrechen: Weil sein Rekurs abgelehnt wurde, bekam er Arbeitsverbot und wurde der Nothilfe zugewiesen. Eine Petition machte auf dieses Problem aufmerksam: Daraufhin hat das SEM die Frist um zwei Monate verlängert. Man hofft anscheinend, dass bis dann die sanitäre Krise vorbei ist oder dass bis dann Ausschaffungsflüge wieder möglich sind. Obsession der Teleologie…

Zum Abschluss: Dürrenmatt und die Schweiz

Um es mit Ricœur zum Ausdruck zu bringen: Die Konflikte, mit denen die praktische Weisheit zu tun hat, führen oft zur Niederlage der Deontologie. Das ist jedoch nicht sehr weise. Die Weisheit ruft uns auf, dieser Vorherrschaft der Absichten und Wünsche standzuhalten, welche die Pflicht umgehen und dazu führen, dass das, was sein muss, nur noch sein sollte und deshalb oft nicht ist. Die praktische Weisheit ruft uns deshalb auf, Wächter der Deontologie zu sein, stets die falschen Teleologien enthüllend. Denn es kann nicht sein, dass es auf Kosten der Deontologie geschieht, wenn wir «ein gutes Leben, mit dem anderen, für den anderen, in gerechten Institutionen» wollen, sondern vielmehr nur mit ihr, als der ständigen Basis und Referenz. Der junge Dürrenmatt, dessen 100. Geburtstag wir im nächsten Januar feiern werden, hat es in einem Text von 1950 mit Nachdruck formuliert, in dem er überlegte, was die Zukunft der Schweiz im entstehenden Europa sein könnte. Daraus zitiere ich ein paar Sätze, die weiterhin aktuell sind und mir als Schluss dienen: «Nur eine Schweiz, die den Flüchtlingen jeden Schutz und jede Hilfe gewährt, die irgendwie möglich ist, hat ein Anrecht da zu sein. Es ist unser erstes politisches Gebot, zuerst an andere zu denken und dann an uns. Für die Vertriebenen können wir nie genug tun, denn wir berechtigen so unsere Existenz. Jeder Löffel Suppe, den wir ihnen geben, ist mehr wert als sämtliche Reden unserer Landesväter und Professoren. […] Kein Staat fusst so sehr auf der Gerechtigkeit wie die Schweiz. Nur in der Gerechtigkeit ist eine Freiheit möglich, die nicht Willkür ist. Gerechtigkeit ist die höchste Aufgabe der Schweiz. […] Wir müssen begreifen, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte stehen. Eine zukünftige Schweiz ist nur als sozialster Staat der Welt denkbar, sonst wird sie als Kuriosum gelegentlich im Geschichtsunterricht späterer Generationen erwähnt werden.»[7. Friedrich Dürrenmatt, Meine Schweiz. Ein Lesebuch, Zürich, Diogenes, 1998, S. 240-241.]

Pierre Bühler,

Neuchâtel/Zürich,

März-Mai 2020