Schweigen die Kirchen oder erheben sie ihre Stimme? Ein Manifest – zur Diskussion

von Pierre Bühler, Neuchâtel/Zürich
Überarbeitete Fassung eines Textes, der unter dem Titel «Gegen das Schweigen der Kirchen» in der Zeitschrift Neue Wege, 116. Jahrgang, Nr. 9.2022, S. 27-29, erschienen ist.

Das intensive Engagement der Kirchen für die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) im Herbst 2020 hat viele, teils sehr heftige Reaktionen in Gesellschaft und Kirchen ausgelöst, bis hin zu einer rechtlichen Abstimmungsbeschwerde. Das hat die Kirchen verunsichert, sodass sie sich oft nicht mehr getrauen, sich zu sozialpolitischen Fragen zu äussern, vor allem, wenn sie brisant sind. Dieser «Angstreflex» wird noch dadurch gefördert, dass die Kirchen in letzter Zeit oft vor allem mit sich selbst, ihren Strukturen und Finanzen beschäftigt sind und bei heiklen Themen um ihre immer weniger werdenden Mitglieder bangen.

Um dieses gefährliche Schweigen zu bekämpfen und die Kirchen zu mehr Äusserungsfreiheit zu ermutigen, seien hier einige grundlegende Perspektiven zum Thema «Kirche und Politik» zur Diskussion vorgelegt.

  1. Das griechische Wort polis bezeichnet das Stadtwesen, und von dort her auch das Staatswesen. In diesem Sinne ist Politik die Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum. Da die Kirchen Teil der Zivilgesellschaft sind (in der Schweiz meistens als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt) können sie gar nicht nichtpolitisch sein. Sie sind es auch, wenn sie behaupten, Kirche habe nichts mit Politik zu tun, oder wenn sie sich auf ihren sogenannten Kernauftrag konzentrieren wollen. Wie die Kommunikationstheorie gezeigt hat, ist Nichtssagen keine vermeintliche Neutralität, sondern ebenfalls eine Kommunikation («Es ist uns recht, so wie es ist»; «Wir lassen doch lieber andere machen»; «Wir sind jetzt mit Wichtigerem befasst»; usw.).
    Dass die Kirchen gar nicht nichtpolitisch sein können, hat damit zu tun, dass ihr Kernauftrag, die Verkündigung und Bezeugung des Evangeliums in vielfältigen Formen (Gottesdienst, Predigt, Unterricht, Seelsorge, Diakonie usw.) immer schon gesellschaftsrelevant ist.
  2. Freilich muss gleich betont werden, dass es nicht darum geht, das Politische religiös zu
    besetzen; in den modernen demokratischen Rechtsstaaten vollzieht sich die politische
    Verantwortung in einem säkularen Raum, der auch säkular bleiben muss. Darin haben die Kirchen eine Stimme zu vertreten, eine Stimme unter anderen, aber auch eine Stimme mit anderen, wenn es zu Bündnissen kommen kann (so etwa die kirchlich verwurzelten NGOs mit anderen NGOs zusammen bei der Lancierung der KVI).
  3. Als Erste tragen die Christinnen und Christen in ihrem freien Gewissen die Verantwortung, aus ihrer Glaubensmotivation heraus ihre politischen Aufgaben als Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen. Die Kirchen können ihnen diese bürgerliche Verantwortung nicht abnehmen, sondern sie ihnen immer wieder bewusst machen. Sie unterstützen sie bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung, indem sie ihnen Orte des Austausches anbieten, in denen die sozialpolitischen Implikationen des Evangeliums erörtert werden können. Kirchen sorgen dafür, dass ihre Mitglieder in ihrer unterschiedlichen Art, politische Verantwortung wahrzunehmen, möglichst fruchtbar miteinander ins Gespräch kommen, ohne sich vor Auseinandersetzungen zu scheuen, denn zur Demokratie gehört eine gesunde Konfliktkultur. Damit verbindet sich kein Urteil über bessere und schlechtere Christinnen und Christen; schlechte Christinnen und Christen sind höchstens solche, die ihre politischen Aufgaben vernachlässigen und sich aus Gleichgültigkeit ihrer Stimme enthalten.
  4. Diese politische (Meinungs-)Bildungsarbeit soll nicht nur nach innen geschehen: Die
    Mitglieder sollten dabei anderen Menschen, mit anderen Meinungen, begegnen, Mitgliedern anderer Kirchen, aber auch Kirchenfernen, Konfessionslosen. Die Kirchen sorgen auch dafür, dass ihre Mitglieder einen möglichst kritischen Umgang mit den meinungsbildenden Kommunikationsmitteln (Presse, Radio, Fernsehen, Internet) pflegen.
  5. In diesem Sinne sind Kirchen keine politischen Parteien und geben keine Parolen heraus, die ihre Mitglieder befolgen sollten. Sie greifen also auch nicht in das parteipolitische Tagesgeschäft ein.
  6. Es gibt jedoch politische Entscheidungen, die nicht einfach parteipolitischer Natur sind,
    sondern eine tiefere Relevanz haben, in Hinsicht auf Grundwerte und Grundnormen, welche die Auffassung des Zusammenlebens überhaupt betreffen (das war bei der Abstimmung über die KVI der Fall). Bei solchen grundsätzlichen Fragen sind die Kirchen substanziell betroffen und haben deshalb ihre Stimme hören zu lassen. Es liegt dann in ihrer Verantwortung, genau zu überlegen, wo, wann, wie, in welchem Ausmass, mit welcher Intensität und mit welchen Mitteln (etwa mit Fahnen an Kirchtürmen!) sie das jeweils tun wollen. Sie sollten sich dabei nicht mit finanziellen Argumenten unter Druck setzen lassen; anvertrautes Geld darf verantwortlich gebraucht werden.
  7. Als kritischer Massstab kann folgende Regel gelten: Wenn das gesellschaftlich-politische Zusammenleben als solches gefährdet ist, dürfen die Kirchen nicht bei ihrer Bildungsarbeit bleiben, sondern müssen als Institution Stellung beziehen, die Probleme beim Namen nennen und ihre theologisch-politische Überzeugung zum Ausdruck bringen. Sie sind also genau dann besonders gefragt, wenn es heikel wird. Wer hier als «die Kirche» spricht, ist dann klar zu bestimmen; es darf nicht verallgemeinernd in Anspruch genommen werden, sondern muss von Fall zu Fall als konkrete Instanz in konkreter Situation bezeichnet werden («wir, die Bischofskonferenz…», «wir, der Kirchenrat von…», «wir, die Kirchgemeinde von…», «wir, die ökumenische Gruppe für…», usw.).
  8. Um diesen kritischen Massstab zu konkretisieren, seien hier einige Beispiele angegeben.
    a) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn die demokratischen Prinzipien hintergangen werden, weil andere Interessen, etwa wirtschaftliche, die sozialpolitischen Prozesse dominieren und den Machtverhältnissen zu freien Spielraum lassen. Alle sind sich einig, dass das Recht und die Ethik, die Verpflichtung zu einem gerechten Handeln immer wieder vernachlässigt werden; und dazu schweigen die Kirchen.

    b) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn mit der Wahrheit unehrlich umgegangen wird und Politikerinnen und Politiker die Bevölkerung bewusst anlügen, ihr falsche Verheissungen vorspielen; und dazu schweigen die Kirchen.

    c) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn politische Entscheidungen menschliche Grundrechte verletzen. Was demokratisch entschieden wird, ist noch lange nicht menschenrechtskonform. Im Asylrecht hat sich die Schweiz seit Jahren mit
    Menschenrechtsverletzungen arrangiert; und dazu schweigen die Kirchen. Alle sind sich einig, dass an den Aussengrenzen Europas schlimme Menschenrechtsverletzungen stattfinden, und trotzdem wird die schweizerische Finanzierung von Frontex mit einer Dreiviertelmehrheit bedingungslos «abgesegnet»; und dazu schweigen die Kirchen.
    Menschenrechte sind nicht verhandelbar, und dazu sollten die Kirchen bedingungslos stehen.

    d) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn politische Entscheidungen Umweltzerstörung ignorieren oder bewusst in Kauf nehmen, anstatt sie aktiv zu bekämpfen. Junge umweltbewusste Aktivist:innen werden wegen ihrer harmlosen Aktionen rechtlich bestraft, während Banken und Versicherungskassen ihre Finanzierung von umweltschädlichen Rohstoffen unbestraft fortführen dürfen; und dazu schweigen die Kirchen.

    e) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn das sozialpolitische und wirtschaftliche
    Gefälle zwischen der Nord- und der Südhemisphäre ignoriert, toleriert oder sogar verschärft wird, etwa indem weiterhin von den Konzernen keine rechtlich verpflichtende Verantwortung erfordert wird; und dazu schweigen die Kirchen.

    f) Kirchliche Stellungnahmen sind gefragt, wenn schwache, kleine, recht- und stimmlose
    Menschen ausgegrenzt werden. Indem die Kirchen für die Schwächsten Partei ergreifen, ihre Würde verteidigen und für sie einstehen, handeln sie parteipolitisch unabhängig. Hingegen handeln sie verfassungskonform, im Bewusstsein, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» (Präambel). Noch klarer ist die französische Fassung: «que la force de la communauté se mesure au bien-être du plus faible de ses membres» (dass die Stärk der Gemeinschaft sich misst am Wohl des Schwächsten ihrer Mitglieder). 

  9. In solchen Fällen müssen die Kirchen ein prophetisches Wächteramt ausüben – nicht aus hoher Warte, sondern im kritischen Gespräch mit den staatlichen Behörden –, indem sie «in der Ausrichtung aller Lebensbereiche am Evangelium […] für die Würde des Menschen, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Bewahrung der Schöpfung» eintreten (Kirchenordnung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, 2009, Art. 4,2). Ergänzend: «Die Landeskirche nimmt das prophetische Wächteramt auch in ihrem diakonischen und seelsorgerlichen Handeln wahr. Sie benennt Ursachen von Unrecht und Leid. Sie wirkt mit beim Suchen von Lösungen und stellt sich in den Dienst der Vermittlung» (a. a. O., Art. 65,4).
  10. Ähnlich verpflichtend formuliert es Papst Franziskus: «Obwohl die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates zentraler Auftrag der Politik ist, kann und darf die Kirche im Ringen um Gerechtigkeit nicht abseits bleiben. Alle Christen, auch die Hirten, sind berufen, sich um den Aufbau einer besseren Welt zu kümmern.» (Apostolisches Schreiben «Evangelii Gaudium», 2013, Nr. 183)
  11. Für dieses Wächteramt haben sich die Kirchen mit dem konziliaren Prozess «Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung» einen wichtigen Bezugsrahmen gegeben (VI. Vollversammlung des ÖRK, Vancouver, 1983). Dazu heisst es in der Erklärung der Europäischen Ökumenischen Versammlung Frieden in Gerechtigkeit, Basel, 1989, Nr.79: «Wir halten es für wesentlich, dass die lebenswichtigen Anliegen von Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung nicht vom Auftrag der Kirche zur Verkündigung des Evangeliums getrennt werden.»
  12. Wenn alle rechtlich gewährten Wächteramtshandlungen ausgeschöpft sind, können die Kirchen in die Lage kommen, nicht nur «die Verantwortlichmachung des Staates» und den «Dienst an den Opfern des staatlichen Handelns» zu pflegen, sondern im Extremfall dem Rad des Staates «in die Speichen zu fallen» (D. Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage, DBW 12, S. 353). Das heisst etwa: dem Staat gegenüber zivilen Ungehorsam ausüben, gewaltlose illegale Handlungen vollziehen (z.B. Kirchenasyl), im Sinne kritischer Loyalität, die den Staat bei seinen rechtlich-ethischen Verpflichtungen behaftet.
  13. Unten links liegt oft all das, was einem unangenehm ist, was man lieber verdrängen möchte, weil es stets Schatten wirft auf unsere schönen Einrichtungen, wo alles schön und gut läuft, nach oben rechts tendierend. Deshalb bedarf es einer Kirche von unten links, als eines nötigen Störenfrieds, der stets die «gefährliche Erinnerung» an die Jesusbewegung wach werden lässt, aus der unsere Kirchen mehr oder weniger glücklich hervorgegangen sind. Dieser Störenfried vollzieht einen wichtigen Kirchendienst, denn wenn das Salz der Erde fade wird, womit soll man dann salzen?
  14. Es ist höchste Zeit, dass die Kirchen wieder ihre Stimme erheben.
  15. Die Kirchen wissen, dass es in der Politik nicht darum geht, das Reich Gottes zu verwirklichen. Sie beten «Dein Reich komme» und setzen sich für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ein. Sie üben sich dabei in Humor, als Weisheit, beides angemessen in Beziehung zu setzen und zugleich voneinander zu unterscheiden, und das eine zu tun und das andere nicht zu lassen …