Kroatien: Gewalt an den Grenzen – Überforderung im Asylwesen

Bericht einer Delegation des netzwerk migrationscharta.ch von einer Reise nach Kroatien (26.7. – 31.7 2023)

Eine Delegation des Netzwerks migrationscharta.ch kommt zum Schluss, dass Kroatien unter hohem Druck steht und das Asylwesen dementsprechend zunehmend überfordert wird. In den Gesprächen mit NGOs, staatlichen Stellen, der Schweizer Botschaft und dem
Erzbischof von Rijeka stellten die Delegationsmitglieder fest, dass sowohl die medizinische Versorgung und die Unterbringung als auch das eigentliche Asylverfahren systemische Mängel aufweisen. Deshalb sind sie mit der Schweizer Flüchtlingshilfe, Solidarité sans frontieres und vielen anderen Organisationen einig, dass die Schweiz im Sinn der Dublin-III-Verordnung keine Rückführungen nach Kroatien durchführen soll und den über 900 Personen, die davon betroffen wären, in der Schweiz ein Asylverfahren ermöglicht. 

Begegnungen mit verzweifelten geflüchteten Familien und Einzelpersonen, die einen Nichteintretensentscheid erhielten und gemäss der Dublin-Verordnung nach Kroatien zurück geführt werden sollten und Berichte über bereits durchgeführte Ausschaffungen nach Kroatien, liessen uns vom 26.7. – 31.7. nach Kroatien reisen.
Es gibt bereits viele Berichte über die Push-Backs und die Gewalt an der Grenze zu Kroatien. Diese sind hinlänglich dokumentiert und beziehen sich auf eine Vielzahl von Aussagen, die unter anderem vom Center of Peace Studies (Zagreb) gesammelt und veröffentlicht wurden. Diese schlimmen Missstände werden auch von internationalen Organisationen, dem EGMR dem BVGer, dem SEM und anderen europäischen staatliche Stellen anerkannt. Deswegen ging es bei unserer Reise nicht um die Problematik der Push-Backs. Vielmehr wollten wir sehen und hören, in welcher Situation sich Geflüchtete, die in Kroatien nach einer Rückführung um Asyl bitten, befinden. Wie werden sie betreut und untergebracht? Wie sieht das Asylverfahren aus? Was sind die Herausforderungen? Diesen Fragen gingen wir nach.
An vier Tagen führten wir mit folgenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Institutionen Gespräche:

Are You Syrious, Center for Peace Studies, Schweizer Botschaft, Leiter der Abteilung
Unterbringung von Geflüchteten des Kroatischen Innenministeriums, Jesuit Refugee Service (alle in Zagreb), Erzbischof Mate Uzinic und Transitzentrum (beides in Rijeka). Wir hatten auch Gelegenheit mit einigen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich zwangsweise ausgeschafften Personen (Familien und Einzelpersonen) und anderen Geflüchteten zu sprechen.

Besuch bei der Schweizer Botschaft

Aus der Summe der Begegnungen und Gespräche ergeben sich folgende Beobachtungen und Schlussfolgerungen:
Das Asylsystem in Kroatien ist sehr jung, da Kroatien erst seit 2013 in der EU ist, auch wenn
es bereits seit 2003 ein Asylsystem gibt. Seit 2015 stieg die Zahl der Asylgesuche an und
entsprechend entwickelte es sich auch erst seither und ist immer noch im Aufbau begriffen. In allen Bereichen des Asylsystems sind die Ressourcen äusserst knapp. Seit 2023 gehört Kroatien zum Schengenraum. Seither hat sich die Situation sehr verschärft: Einer Anzahl von 31‘000 beabsichtigten Asylanträgen (expressed intentions) alleine 2023 (600% mehr als im Zeitraum des Vorjahres) steht eine Aufnahmekapazität in zwei Zentren von gut 1‘000 Plätzen gegenüber. 40% der Gesuchstellerinnen meldet sich gar nie in einem der beiden Zentren. Zwar bemüht sich das Innenministerium neue Plätze zu schaffen, dies geschieht aber nur sehr langsam, da sich viele lokale Behörden weigern, entsprechende Liegenschaften zur Verfügung zu stellen. Die NGOs, die sich ergänzend zu den staatlichen Stellen in der Beratung und in der Integration der Flüchtlinge engagieren, sind an der Kapazitätsgrenze. Es kommt hinzu, dass in den letzten anderthalb Jahren der kroatische Staat seine Einwanderungspolitik liberalisiert hat. Seither kamen über Arbeitsagenturen 27‘000 Arbeitsmigranten aus dem asiatischen Raum (Nepal, Bangladesch, Philippinen etc.) ins Land¹.
Diese arbeiten unter prekären Bedingungen. Auch sie benötigen soziale Integration und
Beratung.

Ein aktuelles Problem stellt die medizinische Versorgung in den Asylzentren dar. Dies sagten uns übereinstimmend sowohl die Schweizer Botschaft als auch der Zuständige für die Unterbringung, Philipp Stipic. Seit Mai hat die Organisation MDM (Médecins du Monde) ihre Arbeit im Asylzentrum Porin in Zagreb eingestellt. Das Gesundheits- und das Innenministerium sind aktuell daran, den Auftrag neu auszuschreiben. Kurz nach unserem
Besuch in Zagreb konnte MDM eine vom SEM unterstützte Überbrückungslösung mit den
kroatischen Behörden vereinbaren und wird die medizinische Grundversorgung voraussichtlich noch im August wieder anbieten, bis über die Ausschreibung entschieden ist. Da jeden Tag Hunderte von Personen neu ins Zentrum kommen, ist nur eine medizinische Grundversorgung gewährleistet. Es besteht die Möglichkeit in ein Health-Care-Zentrum in der Nachbarschaft des Zentrums zu gehen, wo auch die einheimische Bevölkerung medizinisch versorgt wird. Im Zentrum selbst gibt es das Rote Kreuz, welches für die Betreuung der Menschen zuständig ist. Wir hatten vom Zentrum selber einen guten
Eindruck, es gab Möglichkeiten für die Kinder zum Spielen, einen Kreativ-. Musik- und
Sportraum. Das Rote Kreuz hat eine in etwa vergleichbare Rolle wie in der CH ORS oder AOZ. Das Zimmer, welches wir sahen, fanden wir im guten Zustand vor. Das Essen kommt von einer Militärküche in der Nähe. Erwachsene erhalten 13 Euro im Monat als persönliches
Taschengeld. Der ÖV ist für sie in Zagreb gratis. Die geflüchteten Personen, mit denen wir
sprachen berichteten uns allerdings, dass sie bisweilen nicht satt werden und auch die
hygienischen Bedingungen schlecht seien. Aufgrund der hohen Fluktuation sind die
ankommenden Flüchtlinge selber dafür zuständig, ihre Zimmer sauber zu halten.

Besuch beim Jesuiten Flüchtlingsdienst – JRS

Ein grosses Problem ist auch das eigentliche Asylverfahren. Das erste Interview findet sehr
bald nach der Registrierung statt. Die Vertreter:innen der NGOS berichteten, dass diese ohne jegliche Vorbereitung, ohne Rechtsberatung und oft ohne adäquate Übersetzung geführt wird. Einige Leute erzählten uns, dass sie sich überhaupt nicht verstanden fühlen. Der Vertreter vom Innenministerium betonte, dass alle Informationen in der jeweiligen
Muttersprache abgegeben werden und auch jeweils eine Übersetzung in dieser
gewährleistet sei. Das zweite Interview findet frühestens sechs Monate später statt. Der
Asylentscheid wird in der Regel zwei bis drei Jahre später gefällt. Die Zahlen alleine sprechen für sich: Im letzten Jahr (2022) wurden offiziell 2‘588 Asylanträge gestellt und davon 88 Fälle entschieden. 21 Personen, wovon 18 Kinder sind, erhielten Asyl. Alle anderen, also 67 Asylsuchende, wurden abgelehnt. In diesem Jahr erhielten erst drei Personen Asyl. Auf unsere Frage, warum es so wenige seien, wurde uns von allen übereinstimmend gesagt, dass die grosse Mehrheit der Leute (80-95%) vor einem Entscheid weiterreisen. Auch wenn man dies berücksichtigt, ist die Asylanerkennung immer noch sehr tief – nämlich ca. 3% . Die meisten Geflüchteten reisen weiter Richtung Italien und dann weiter nach Österreich, Deutschland oder die Schweiz. Viele wollen auch nach Grossbritannien. Im laufenden Jahr wurden alleine im März 3765 Asylsuchende registriert, wovon 2510 Personen einen Asylantrag stellten. Im Januar waren es 2‘500 Personen, von diesen stellten 1‘400 einen Antrag – ein Anstieg von 600% im Vergleich zum Januar 2022.²Dieser sehr starke Aufwärtstrend hält an. Diese Zahlen decken sich mit den Wahrnehmungen unserer GesprächspartnerInnen und führen nach ihren Beobachtungen hinzu, dass das Asylsystem und auch die NGOs trotz aller Bemühungen überfordert sind.

Alle GesprächspartnerInnen – auch der Zentrumsleiter und die Vertreter der Schweizer Botschaft – sagten uns, dass das Asylwesen unter einem stetig wachsenden Druck stehe. Und die beteiligten NGOs und Kirchenvertreter sagten, dass es eine massive Überforderung wäre, wenn die Schweiz die knapp 1000 Personen mit einem aktuellen
Nichteintretensentscheid nach Kroatien ausschaffen würde.

Helppoint vom Erzbistum Rijeka und Caritas in Rijeka mit Möglichkeit für Dusche, Essen, Schlafen

Die Dublin-Verordnungen sehen vor, dass keine Antragsteller an den zunächst als zuständig
bestimmten Mitgliedstaat überstellt werden, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen.
Da wir systemische Mängel in Bezug auf das Asylverfahren, resp. der entsprechenden Anerkennungsquote und in der medizinischen Betreuung der Asylsuchenden sehen, fordern wir das SEM auf, auf die Asylgesuche der knapp 1000 Geflüchteten einzutreten.
Als Kirchen sind wir bereit, mit unseren Möglichkeiten (Wohnraum, Finanzen und Freiwillige) die Integration und Betreuung dieser Menschen zu unterstützen.

mit dem Erzbischof von Rijeka, Mate Uzinic
Andreas Nufer (Pfarrer an der Heiliggeistkirche Bern,
Verena Mühlethaler, Pfarrerin offene Kirche St. Jacob Zürich und
Nicola Neider Ammann, Theologin und Fachbereichsleiterin Migration&Integration der katholischen Kirche Stadt Luzern)

¹Vgl. zum Beispiel https://infoomni.com/croatia-work-permit/

² https://www.laenderdaten.info/Europa/Kroatien/fluechtlinge.php